Weihnachten – das Fest der Liebe?

Der moralische Zwang, die Eltern bedingungslos zu lieben, kann bei Kindern und Erwachsenen sowohl körperliche als auch seelische Schäden verursachen. Er verhindert, dass frühe Erfahrungen von Gewalt und Misshandlung verarbeitet werden und bewirkt, dass sich unterdrückte Gefühle wie Angst und Hass gegen den eigenen Körper oder andere Menschen richten. Außerdem wird verdrängtes Leid oft an die eigenen Kinder weitergegeben. Kunst und Körpertherapie sind Möglichkeiten, die psychischen und physischen Symptome zu lindern, in denen sich dieses Trauma äußert. Um jedoch den Teufelskreis endgültig zu durchbrechen und Körper und Geist wirklich zu heilen, müssen verdrängte Emotionen zugelassen und die eigenen Eltern für das zur Verantwortung gezogen werden, was sie einem angetan haben, ob bewusst oder unbewusst. Das bedeutet nicht Aug um Auge, Zahn um Zahn, sondern klar hinzuschauen, was passiert ist und durch eigene klare Grenzen weiteres missbräuchliches Verhalten zu verhindern.

Aus dem Alltag:

Unerklärliche Bauchschmerzen oder Verspannungen, eine seltsame Sehnsucht, die sich einfach nicht befriedigen lässt, Depressionen oder Panikattacken, die immer wiederkehren: All dies können Symptome einer verdrängten Erfahrung von physischer oder psychischer Gewalt in der Kindheit sein.

Man sollte eigentlich meinen, dass die Liebe zum eigenen Kind eine Selbstverständlichkeit ist. Dennoch verletzen und misshandeln viele Eltern ihre Kinder, seelisch oder körperlich. Manchmal ist es ihnen bewusst, manchmal nicht. Denn auch Vernachlässigung oder Demütigung gehören zum Repertoire des verletzenden Verhalten gegen Kinder – doch dies ist leider oft Teil der Erziehung. 

Paradoxerweise sollen Kinder ihre Eltern trotz dieser Verletzungen bedingungslos lieben. Wer dieses moralische Gebot der Ehr-Furcht vor den Eltern befolgen will, obwohl er von seinen Eltern verletzend behandelt wurde, muss seine wahren Emotionen zwangsläufig unterdrücken. Wozu das führen kann, darüber schreibt u.a. die Psychologin Alice Miller.

Misshandelte Kinder verdrängen traumatische Erlebnisse aus dem Bewusstsein, weil sie von der Liebe ihrer Eltern abhängig sind.

„Du sollst Vater und Mutter ehren“, heißt es in der Bibel, die bis heute für viele Menschen die Grundlage für ihr Verständnis von Moral bildet. Die meisten Menschen sind der Überzeugung, dass den Eltern Liebe und Respekt gebührt, denn schließlich verdanken sie ihnen die Existenz. Leider fügen zu viele Eltern ihren Kindern physische Gewalt oder psychisches Leid zu. Wenn man nun bedingungslose Ehrfurcht vor ihnen haben soll, muss man negative Erlebnisse mit den Eltern zwangsläufig in einer Schublade verschließen.

Nicht immer ist den Eltern bewusst, wie sehr sie ihre Kinder verletzen, und dass auch Unterlassung oder Verweigerung von Nähe eine Form der Gewalt sein kann. Dabei ist inzwischen hinlänglich bekannt, wie sehr Kinder auf Zuwendung angewiesen sind. Ein Neugeborenes ist seiner Umgebung schutzlos ausgeliefert. Um zu überleben, benötigt es die Fürsorge und Liebe seiner Eltern oder anderer Bezugspersonen, die das Kind beschützen, ernähren und pflegen. 

Kinder, denen genügend „emotionale Nahrung“ in Form von Zärtlichkeit, Verständnis und Ehrlichkeit gespendet wird, sind für die Herausforderungen des Lebens gewappnet. Zudem werden sie die Liebe, die sie selbst erfahren, auch an ihre Nächsten weitergeben können.

Erhält ein Kind hingegen keine echte Zuneigung, kann das verheerende Folgen haben. Um zu überleben, sind Kinder darauf angewiesen, alles dafür zu tun, von ihren Eltern geliebt und versorgt zu werden. Aufgrund dieser existenziellen Abhängigkeit sind misshandelte Kinder dazu gezwungen, traumatische Erlebnisse aus ihrer Erinnerung zu verdrängen und sich somit einer gefährlichen Illusion von Liebe hinzugeben. Die Verbannung traumatischer Kindheitserfahrungen aus dem Bewusstsein ist also eine Folge des Überlebensinstinkts. 

Dass diese Erinnerungen unterdrückt werden, bedeutet jedoch nicht, dass sie fortan sicher weggeschlossen sind und die Betroffenen nicht mehr belasten. Oftmals hält die Verdrängung kindlicher Traumata bis ins Erwachsenenalter an. Die Betroffenen idealisieren Eltern und Kindheit, leiden jedoch unbewusst an einem lebenslangen Mangel an emotionaler Nahrung. Noch Jahre und Jahrzehnte kann sich der erlittene seelische Knacks auf qualvolle Weise äußern, etwa in Form von unerfüllten Sehnsüchten, einem unerklärlichen Schamgefühl oder chronischen psychosomatisch bedingten Krankheiten. Der Kopf vergisst, doch der Körper speichert die Erfahrung.

In diesem Sinne bieten gerade die Vorweihnachtszeit als auch das Weihnachtsfest eine gute Gelegenheit in Ruhe und Besinnlichkeit ohne zu verurteilen zu reflektieren und die dadurch gefundenen neuen Grenzen zu zeigen und zu leben, frei von Heuchelei und scheinbarer Anpassung.

Kein einfaches, jedoch ein wertvolles Unterfangen. Weitere 364 Tage bleiben Ihnen, dies immer wieder zu überprüfen. Wer bin ich und wo stehe ich und wo ist meine Grenze zu der jeweiligen anderen Person.